Wir brauchen Vielfalt

Groß? Mittel? Klein? Wie sollte ein Bauernhof aussehen? Mit dieser Frage schickte uns David Del Pino Rodríguez ins Wochenende. In seinen eigenen Überlegungen zitiert er die führenden Wirtschaftswissenschaftler der letzten 200 Jahre. Auch wir haben an der Universität vor 30 Jahren gelernt, dass eine Mindestgröße notwendig ist, um wirtschaftlich arbeiten zu können. Wir haben damals auch gelernt, welche Rolle Monopole, Oligopole und Polypole spielen und wie man sich gegenüber der Marktmacht behaupten kann. Und der Konsens war und ist, dass man sich gegen eine dominante Marktmacht nur durch Wachstum behaupten kann. Wir leben heute in einer Zeit der Monopole und Oligopole. Für den Markt von frischem Obst und Gemüse heißt dies konkret: In Europa gibt es nur noch wenige Lebensmitteleinzelhändler, die den Absatzmarkt beherrschen, und wenige Industrien, die die Produktionsmittel bereitstellen. Und in der Landwirtschaft entstehen durch Investitionen, Übernahmen und Zukäufe viele neue, große Akteure, welche zu relevanten Marktpartnern werden. Für ein Polypole bleibt hier kein Platz. Das hat auch die Europäische Union erkannt und fördert den Zusammenschluss von Kleinbetrieben zu größeren Einheiten. Sei es in der Produktion, oder sei es in der Vermarktung. So weit, so gut. Die Vielfalt geht zurück.

Nun, ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, sondern Pflanzengenetiker und Agrarökologe, und kann und will nicht beurteilen, ob diese Entwicklung gut oder schlecht ist. Ich möchte jedoch versuchen die Angelegenheit aus einer anderen Sichtweise zu betrachten:

Der Markt der Produktionsmittel

Wir haben es derzeit auf allen Ebenen der Supply-Chain mit einer Reduzierung der Marktteilnehmer zu tun. Im vorgelagerten Bereich bei der Bereitstellung der Produktionsmittel sehen wir eine massive Einengung auf der Angebotsseite: Gab es früher Landsorten und waren die einzelnen Landwirte ihre eigenen Züchter, so sind es heute nur noch wenige Züchtungshäuser. Und auch dort findet eine weitere Konzentration statt, indem viele Züchtungsfirmen durch einige, wenige Agrarkonzerne aufgekauft und gebündelt werden. Oder auch die Bereitstellung von Düngemittel wird durch lediglich 3 bis 4 Firmen gewährleistet. Ähnliches beobachten wir bei Verpackungsmaterial, Pflanzenschutzmittel, Energieträger, Maschinen, usw. In die andere Richtung der Chain gibt es eine Konzentration der Händler und Vermarkter. Durch die Tendenz des Lebensmitteleinzelhandels die Beschaffung in eigener Regie zu bündeln, nimmt hier die Auswahlmöglichkeit an Absatzwegen weiter ab. In diesem Umfeld ist es normal, dass Landwirte ihre eigene Chance nur darin sehen, in dem sie in Genossenschaften aufgehen, oder auf Kosten des Nachbarn wachsen. Und gerade letzteres wird durch die Kapitalmärkte gerade massiv vorangetrieben.

Eine Frage von Nachfrage und Angebot

Wir haben es aber auch mit einer Reduzierung des Angebotes zu tun: Da der Lebensmitteleinzelhandel ein Systemgeschäft ist, welcher mehr durch Umsatz, denn durch Gewinnspanne rentabel funktioniert, kann er nur mit standardisierten Formaten effektiv arbeiten. D.h. einheitliche Kaliber, einheitliche Sorten, einheitliche Verpackungen, usw. Dieser reduzierten Nachfrage passt sich die Landwirtschaft an. Es werden nur noch Produkte angebaut, welche der Lebensmitteleinzelhandel verkaufen kann: „Gala“ statt „Jakob Level“, „Romatomate“ statt „Salattomate“, „Eisbergsalat“ statt „Platterbsen“. Hinzukommt, dass sich jeder Landwirt von je her spezialisiert. Der eine baut lieber Birnen an, der andere bevorzugt Zucchini. Durch das Wachstum eines Betriebes in Folge von Adsorption des Nachbarn, wächst folglich auch der Umfang der präferierten Kulturart.
Das waren jetzt nur ein paar wenige Beispiele von vielen Konzentrationen, Bündelungen, Reduzierungen. Dieser Rückgang birgt nicht nur große Gewinnchancen für den Einzelnen, denn:

Die (Um-)welt besteht aus Vielfalt

Als Darwin damals für sich und für uns die Evolution entdeckte, ging er noch fälschlicherweise davon aus, dass sich der Stärkere durchsetzt. Vielleicht auch geprägt durch die Industrialisierung in seiner Zeit. Heute weiß man, dass sich Populationen vor allem dann als erfolgreich erweisen, wenn sie Vielfältig sind, d.h. wenn sie einen reichen Genpool besitzen. Denn nur die Fülle an Individuen mit unterschiedlichen Genen und Allelen, schafft es durch sogenannte Flaschenhälse erfolgreich hindurchzugehen. Flaschenhälse können zum Beispiel Klimaänderungen sein, oder Krankheiten und Seuchen. Je weniger Individuen die Population hat, umso unwahrscheinlicher ist es, dass sie eine derartige Katastrophe überlebt. Das heißt konkret, dass sich nur die Vielfalt in der gesamten Evolution als Erfolgreich herausgestellt hat. Folglich gibt es in der Natur keine Monopole oder Oligopole. Selbst auf dem kargsten Berghang teilen sich die unterschiedlichsten Organismen den Raum. Nur ein reicher, komplexer und vielfältiger Genpool scheint in der Lage zu sein, sich widerstandsfähig an Umweltveränderungen anzupassen und sich im Laufe der Evolution weiterzuentwickeln. Mit anderen Worten: Je vielfältiger ein System ist, desto besser.

Wir stehen derzeit vor oder mitten in großen Veränderungen, die durch den unaufhaltsamen Klimawandel verursacht werden. Hier ist Vielfalt gefragt, um sich als Gesellschaft schnell genug anpassen zu können. Doch diese Vielfalt wird derzeit reduziert: Eine reduzierte Anzahl von Züchtungsunternehmen bietet uns eine reduzierte Auswahl an Sorten, eine Handvoll Industrieunternehmen arbeitet mit einem reduzierten Kontingent an Mitarbeitern an neuen Lösungen, einige wenige Lebensmitteleinzelhändler kaufen und verkaufen einige wenige standardisierte Produkte und lassen wenig Raum für andere Konsumarten und den Konsum der Gesellschaft. Ganz zu schweigen von der Reduzierung im Bereich der IT und der KI. Und bald wird es nur noch wenige Produktionsunternehmen mit wenigen Ingenieuren geben, die sich nicht mehr auf das Wissen vieler verlassen können. Die wenigen verbliebenen Teilnehmer versuchen zudem, ihre Ressourcen als Wirtschaftseinheiten maximal auszunutzen und spezialisieren sich auf Kosten der Vielfalt auf wenige Kulturen.

Das Risiko einer Reduzierung der Vielfalt

Dies erhöht das Risiko sowohl für den Einzelnen als auch unverhältnismäßig für die Gesellschaft. Dazu eine kleine Anekdote: Vor vielen Jahren lebte ich im Rahmen meines Zivildienstes auf einer Insel mit 1.000 Einwohnern. Um die 30 km lange Fahrt mit dem Fahrrad zum Supermarkt zu sparen, kauften wir unsere Milch bei einem alten Nachbarn, der nur drei Kühe hatte. Wenn die Keimzahl bei einer der Kühe anstieg, waren etwa 10 Nachbarn eine Woche lang häufiger auf dem Klo. Vergrößert sich aber der Einflussbereich und der Absatzmarkt, sind viel mehr Menschen direkt betroffen, wie wir alle während der EHEC-Krise so leidvoll erfahren haben. Mit anderen Worten: Das Risiko steigt mit der Größe, es wird nicht kleiner. Oder um bei Obst und Gemüse zu bleiben: Es ist etwas anderes, wenn nur 10 Packungen einer Charge aufgrund eines Anwendungsfehlers eines Kleinbauern die Höchstmenge überschreiten und unentdeckt auf den Markt gelangen als 100.000 Packungen eines Großunternehmens.
Oder brandaktuell sehen wir das Dahinschwinden der Bananenproduktion, die sich auf Grund des fehlenden Genpools, vor neuen Krankheiten nicht schützen kann. Es fehlen die unzähligen Landsorten, aus denen sich resistente Sorten entwickeln könnten. Als Folge stehen ganze Gesellschaften vor dem Ruin. Menschen können nicht mehr beschäftigt werden, ein Grundnahrungsmittel fällt weg.

Die ideale Betriebsgröße

Monopole und Oligopole sind nicht resilient, doch gerade jetzt benötigen wir resiliente Systeme. Wir brauchen also Vielfalt. Je mehr Marktteilnehmer, desto besser für die Allgemeinheit. Da wir aber die Nutzfläche nicht beliebig erweitern können, muss die Produktionsfläche auf viele aufgeteilt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wird uns eine große Zahl kleiner Unternehmen, Betriebe und Händler langfristig helfen, da sie eher in der Lage sind, neue Innovationen hervorzubringen und sich an globale Veränderungen anzupassen. Um also die Frage von David zu beantworten: Ich denke, der ideale Betrieb ist der kleine Betrieb. Und eine gemeinsame Agrarpolitik sollte sich darauf ausrichten.

Und für alle, die noch nicht Wissen, was es demnächst zu Essen gibt, finden sich hier ein paar Anregungen.


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